Tarife in der Kfz-Versicherung
Der europäische Versicherungsmarkt hat eine weitgehende Liberalisierung erfahren. Die einstige Tarifbindung wurde in der Kasko- und Unfallversicherung aufgehoben: Versicherer müssen ihre Versicherungsbedingungen heute nicht mehr von einer Aufsichtsbehörde genehmigen lassen. Der Gesetzgeber hat die aufsichtsrechtliche Regulierung durch eine vorvertragliche Informationspflicht des Versicherers ersetzt.
Die Versicherungswirtschaft sieht in der Deregulierung Vorteile für Versicherungsnehmer und verweist in diesem Zusammenhang gerne auf den europäischen Binnenmarkt für
KFZ-Versicherungen und den Druck auf die Preise, den der Markt erfahren hat. Die Liberalisierung hat zwei Seiten: In keiner anderen Versicherungssparte setzt sich ein Tarif aus so vielen Merkmalen zusammen wie in der KFZ-Versicherung.
In den letzten Jahren ist ein Phänomen zu beobachten, dass auch in einigen anderen Versicherungssparten, wie zum Beispiel der Berufsunfähigkeitsversicherung, stattfindet: Die Versicherer trennen mit immer ausgefeilteren statistischen Methoden Risiken voneinander. Das Ziel: Möglichst gute Risiken (=Versicherungsnehmer mit geringem Schadenrisiko) statistisch aufspüren und mit günstigen, individualisierten Beiträgen ins eigene Haus locken.
Neue Versicherung gesucht? Dann jetzt hier anfragen:
Mehr Variablen gleich mehr Beitragsgerechtigkeit?
Versicherer unterscheiden bei ihrer Kalkulation zwischen objektiven und subjektiven Risikomerkmalen. Zu den objektiven Merkmalen zählen beispielsweise die Motorleistung, der Verwendungszweck des versicherten Fahrzeugs, die Typklasse und die Nutzlast.
Bei subjektiven Risikomerkmalen handelt es sich um Variablen, die mit dem Versicherungsnehmer im Zusammenhang stehen. Beispiele dafür sind Alter, Geschlecht, Wohnort, Dauer der schadenfreien Fahrperiode, Art der Unterstellung des Fahrzeugs oder Beruf. Für den Tarif spielt es ebenso eine Rolle, ob der Versicherungsnehmer eine BahnCard besitzt (dann wird von einem verringerten Kilometervolumen ausgegangen) oder ob es sich um einen Mieter oder Eigentümer (bezogen auf Immobilien!) handelt.
Die Versicherungswirtschaft argumentiert, dass mit der Anzahl der bei der Tarifierung berücksichtigten Merkmale auch die Beitragsgerechtigkeit steige. Im Grundsatz ist dem kaum zu widersprechen: Ein 18 Jahre alter Fahranfänger mit einem üppig getunten und PS-starken, aber zugleich altersschwachen VW-Golf ist für die Versichertengemeinschaft statistisch betrachtet ein sehr viel größeres Risiko als eine 55jährige mit 35 Jahren Fahrerfahrung und einem Toyota Prius. Es wäre ausgesprochen ungerecht, wenn beide denselben Versicherungsbeitrag bezahlen müssten.
Im Hinblick auf die statistische Selektion von Risiken könnte es aber durchaus einen Punkt geben, ab dem eine zusätzliche Selektion nur sehr wenig zusätzliche Beitragsgerechtigkeit, dafür aber erhebliche zusätzliche Intransparenz mit sich bringt. In anderen Versicherungssparten – genannt sei hier zuvorderst ebenfalls die BU – scheinen einige Entwicklungen in diese Richtung zu deuten. Die Versicherungswirtschaft sieht das naturgemäß anders und hält eine möglichst weitgehende Selektion von Risiken für den Königsweg.
Die Rechtsprechung hat sich bislang nur zu einem Merkmal ablehnend geäußert. Wie auch in allen anderen Versicherungssparten ist es ab Ende Dezember 2012 allen Versicherungsunternehmen mit Sitz in der Europäischen Union verboten, das Geschlecht als tarifbestimmende Variable zu verwenden. Bei ansonsten gleichen Voraussetzungen müssen die Beiträge für Männer und Frauen bei nach dem 21.12.12abgeschlossenen Verträgen identisch sein (so genannte Unisex-Tarife).
Regionalklassen und Typklassen
Auch wenn jedes Versicherungsunternehmen die Bestandteile seiner Tarife frei bestimmen kann, finden sich Gemeinsamkeiten. Zwei wichtige Elemente bei der Prämienkalkulation sind Regionalklassen und Typklassen. Ein versichertes Fahrzeug wird jeweils in der KFZ-Haftpflicht- sowie in der Teil- und Vollkaskoversicherung in eigene Regional- und Typklassen eingestuft. Die Einstufung wirkt sich auf die Höhe der Prämie aus.
Jedes in Deutschland zugelassene Fahrzeug ist in einem bestimmten Zulassungsbezirk registriert. Jedem Zulassungsbezirk wird eine Regionalklasse zugeordnet (eine Klasse kann dabei auf viele Bezirke zutreffen). Für jeden Zulassungsbezirk existieren eigene Schadenstatistiken: In Gegenden mit hohem Verkehrsaufkommen ereignen sich ebenso mehr Schadenfälle wie in Regionen mit hoher Kriminalitätsrate. Die Regionalklassen sind bei fast allen Versicherungsunternehmen in Deutschland identisch, auch wenn die Versicherer grundsätzlich eigene Klassen nutzen können. Die Zuordnung zu einer Regionalklasse erfolgt anhand des Wohnortes des Versicherungsnehmers.
Die Eintrittswahrscheinlichkeit von Schadenfällen hängt auch vom Fahrzeugmodell ab. Fahrzeugtypen wie BMW X5 werden besonders häufig gestohlen. Für viele Typen lässt sich auch eine höhere Unfallwahrscheinlichkeit statistisch nachweisen. Ein Fahrzeug kann in der Teilkaskoversicherung in eine ungünstige und in der Vollkaskoversicherung in eine günstige Typklasse eingestuft sein. Mitunter kann der Fahrzeugtyp entscheidend dafür sein, ob der Abschluss einer Vollkasko- oder einer Teilkaskoversicherung das bessere Preis/Leistungsverhältnis bietet.
Schadenfreiheitsklassen
Der Versicherer berechnet auf der Grundlage seiner Kalkulations-Parameter einen Grundbeitrag. Dieser dient als Basis für die tatsächliche Versicherungsprämie: Abhängig davon, in welche Schadenfreiheitsklasse ein Vertrag eingestuft wird, zahlen Versicherungsnehmer 30% bis 245% des Grundbeitrags. Dabei gilt: Je länger ein Vertrag schadenfrei verläuft, desto günstiger die Schadenfreiheitsklasse und damit auch der Beitrag zur KFZ-Versicherung. Die Einstufunf in Schadenfreiheitsklasse wird in der
KFZ-Haftpflichtversicherung und in der Vollkaskoversicherung vorgenommen.
Die angewandte Klasse hat einen ganz wesentlichen Einfluss auf den Gesamtbeitrag. Das System der Schadenfreiheitsklassen soll zum einen Tarifgerechtigkeit herstellen: Wer die Versichertengemeinschaft über einen langen Zeitraum nicht in Anspruch nimmt, soll weitaus weniger zahlen müssen als Personen mit hoher Unfallfrequenz. Das System dient auch als Anreiz: Wer kleinere Schäden selbst bezahlt, wird von Beitragserhöhungen durch eine veränderte Einstufung verschont. Das gilt auch, wenn der Versicherer die Regulierung zunächst übernimmt und der Versicherungsnehmer sie anschließend erstattet oder zurückzahlt.